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Ziegler Andreas R, Die Rolle des Völkerrechts in aussenpolitischen Krisen der Schweiz - Wichtige völkerrechtlicher Streitfälle, Verträge, diplomatische Dokumente und Urteile betreffend die internationalen Beziehungen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zeitschrift für Schweizerisches Recht, 2019, Bd. 138 (4) pp. 429-456. Peer-reviewed. [serval:BIB_92C1E27BF063]
In der aktuellen Debatte der Schweiz werden völkerrechtliche Verträge allzu oft als unerwünschte Einschränkungen der nationalen Souveränität und die internationale Streitschlichtung als das „Joch fremder Richter“ dargestellt.[1] In weiten Kreisen der Bevölkerung fehlt das Bewusstsein für die (zugegebenermassen oft beschränkte) Rolle des Völkerrechts als Garant der Sicherheit und des Wohlstands. Leider gilt dies selbst für Juristen, obwohl das Völkerrecht in den letzten Jahren in der Ausbildung eher eine Aufwertung erfahren hat. Das Argument, dass gerade der Kleinstaat aus der Einhaltung des Völkerrechts mehr Vorteile zieht als eine (regionale) Grossmacht, der alternative politische und wirtschaftliche Mittel zur Verfügung stehen, verhallt dennoch oft ungehört.[2]
In der aktuellen politischen Diskussion (insbesondere im Verhältnis zur EU werden (völker)rechtliche Konzepte (z.B. internationale Schiedsgerichte, Rahmenabkommen, Guillotineklausel etc.) zwar häufiger diskutiert, es fehlt aber oft eine Einordnung in den langfristigen (historischen) Kontext). Selbst so komplexe Fragen wie die nach dem zwingenden Völkerrecht (etwa im Zusammenhang mit Volksinitiativen) oder „soft law“ (etwa im Zusammenhang mit der OECD oder dem Migrationspakt der UNO) werden heute in der Schweiz häufiger diskutiert als etwa im benachbarten Ausland. Dies mag eine erfreuliche Folge der direkten Demokratie in der Schweiz sein. Leider herrscht in dieser Diskussion aber auch viel Verwirrung und eine historische Perspektive kommt meist zu kurz: ein guter Anlass, um die heutige schweizerische Rechtsordnung und die internationalen Krisen (und ihre völkerrechtlichen Lösungen) unter diesem Gesichtswinkel zu beleuchten. Dabei wurden jene Situationen ausgewählt, in denen in der innenpolitischen Debatte ganz besonders von Bedrohung der Souveränität und der Unabhängigkeit gesprochen wurde.
Im Falle der Schweiz gibt es kaum (völker)rechtliche Literatur zu diesem Thema[3], was leicht zum falschen Eindruck führt, völkerrechtliche Verträge bzw. die Erreichung von rechtsverbindlichen Vereinbarungen mit oder durch andere Staaten hätten für den Status der Schweiz keine wichtige Bedeutung (gehabt).[4] Das beruht wohl auf der weit verbreitenden Meinung, die Schweiz sei seit Jahrhunderten ein Hort der Stabilität, der sich weder bezüglich seines Territoriums noch der Herrschaftsverhältnisse wesentlich verändert habe und geradezu als „Insel der Glückseligen“ in einer Art „splendid isolation“ erfolgreich und wohlhabend geworden sei. Aus staatsrechtlicher und völkerrechtlicher Sicht, erscheint mir aber gerade heute ein entsprechend korrigiertes Verständnis von grosser Wichtigkeit. Nicht zuletzt unser Verhältnis zu rechtlich normierten Zusammenarbeitsformen zwischen Staaten (EU, UNO, OECD etc.)[5] würde dadurch historisch in einem anderen Kontext erscheinen. In den bestehenden historischen Werken und den juristischen Werken zur Verfassungsgeschichte werden diese Fragen (immerhin) unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet[6], aber deren Inhalt scheint wenig Breitenwirkung zu erzielen.
Historisch interessierte wissen hingegen, dass zumindest bis 1848 der Status des Gebiets der heutigen Schweiz (wie auch anderer heutiger Staaten in Europa) recht umstritten und unstet war[7] und dass auch selbst im 19. Jahrhundert noch zahlreiche (zumindest kleinere) territoriale Veränderungen zu völkerrechtlich interessanten Streitigkeiten und Verträgen mit den Nachbarstaaten führten. Danach nahmen die Fragen zur Garantie der Neutralität und der Souveränität bezüglich der eigenen Wirtschaftspolitik stark zu, was jedoch oft ebenfalls als geradezu existenzbedrohend angesehen wurde. Aufgrund der politisch gewollten Erhebung der Neutralität(spolitik) zum Garanten der Schweizer Souveränität werden die beiden Konzepte in internationalen Verhandlungen und Rechtsakten oft vermischt. Der folgende Beitrag versucht daher, die unter Historikern (und wohl auch an der Verfassungsgeschichte interessierten) bekannten Fakten mit den relevanten juristischen Aspekten zu ergänzen und einer völkerrechtlich interessierten Leserschaft die entsprechenden Verträge und Dokumente im Original näher zu bringen.
[1] Auch die Diskussionen im Abstimmungskampf zur sogenannten Selbstbestimmungsinitiative (2018) liessen teilweise diesen Eindruck zurück. Vgl. insbesondere Georg Kreis, Fremde Richter - Karriere eines politischen Begriffs, Zürich 2018.
[2] Vgl. etwa Pkt. 5 der Stellungnahme von 201 Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern aller rechtswissenschaftlichen Fächer der juristischen Fakultäten der Schweiz zur sogenannten Selbstbestimmungsinitiative (2018), online: <https://www.stellungnahme-sbi.ch/>.
[3] Vgl. aktuell Oliver Diggelmann, Völkerrecht - Geschichte und Grundlagen, Baden 2018 sowie die im vorliegenden Artikel zitierte Literatur von Historikern und zur Verfassungsgeschichte.
[4] Was teilweise auch am Mangel umfassender aktueller Darstellungen des Völkerrechts mit Bezug zur Schweiz liegen mag; vgl. Andreas R. Ziegler, Die Entwicklung der Völkerrechtslehre und -wissenschaft in der Schweiz: eine Übersicht, SZIER 2016 I, S. 21-53. Vgl. immerhin noch die Hinweise zu territorialen Fragen im Lehrbuch von Paul Guggenheim, Traité de Droit international public, Bd. 1, Genf 1953 mit gewissen Hinweisen. Aus jener Zeit auch: Hans Becker, Die Rechtsverhältnisse an der Schweizergrenze, Glarus 1931.
[5] Aus Platzgründen muss dabei insbesondere auf ein Aufarbeiten des Verhältnisses der Schweiz zu internationalen Konferenzen und Organisationen (ab Ende des 19. Jahrhunderts) und insbesondere das Verhältnis zur EU und zur UNO verzichtet werden. Vgl. aber Andreas R. Ziegler, Die de facto-Mitgliedschaft der Schweiz in der EU: Binnen- und Aussenbeziehungen, ZEUS 2007 II, S. 247-272.
[6] Vgl. und Rainer J. Schweizer / Ulrich Zelger (Hrsg.), Constitutional Documents of Switzerland from the late 18th Century to the second Half of the 19th Century, München 2016 ff (online) sowie und Hans Conrad Peyer, Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1978.
[7] Vgl. für Zeit vor 1848 Andreas R. Ziegler, Der völkerrechtliche Status der Schweiz, SZIER 2019 IV (im Erscheinen).