Internationaler Literaturpreis 2022 Preis für übersetzte Gegenwartsliteraturen: Cristina Morales und Friederike von Criegern gewinnen mit »Leichte Sprache«.
Die Autorin Cristina Morales und ihre Übersetzerin Friederike von Criegern sind mit dem Internationalen Literaturpreis 2022 ausgezeichnet worden.
Begründung der Jury
»Leichte Sprache« ist eine vielstimmige Ich-Erzählung, ein Gerichtsprotokoll, ein Gesprächsprotokoll, ein Roman in Leichter Sprache, ein Fanzine. Ein poröses Ensemble aus Formen und Figuren. Dieser Roman ist kein Inklusionsmärchen, er ist ein Forderungskatalog. Er besteht auf der Benennung von Unterschieden, auf Klarheit, er besteht auf der Notwendigkeit zu hassen, auf Lebendigkeit, Überraschung und Revolte. »Leichte Sprache« ist eine Liebeserklärung an die Politisierung, aber auch an den Tanz und an das Begehren. Er erzwingt eine Neujustierung von Begrifflichkeiten und Zuschreibungen. Unsere Entscheidung, den Preis diesem Buch zu geben, ist eine Liebeserklärung – an das Buch und seine Protagonistinnen, an die Heftigkeit, mit der sie auf Restriktionen, Demütigungen und Entmündigung reagieren.
»Leichte Sprache« ist ein Buch aus vielen Stimmen, deren Ton oft rasch umschlägt. Rollenprosa von Figuren, über die wir wissen, dass Sprachgewalt und Eleganz nicht ihr Ziel sind, vielleicht auch nicht ihre Fähigkeit – deren Umgang mit Sprache also von vornherein brüchig ist. Man kann sich für eine Übersetzerin kaum eine größere Herausforderung vorstellen. Es ist preiswürdig, mit welcher Diszipliniertheit Friederike von Criegern sich dieser Aufgabe gestellt hat. Cristina Morales’ Buch ist ein Befreiungsschlag, weil es die Stärke vorführt, die unsere Fragilität hervorbringen kann, die Zähigkeit, die in unserer erfahrenen, erlebten oder auch antizipierten Versehrbarkeit gründet. Es führt uns einen auf befreiende Weise veränderten Blick auf die Welt vor, eine erst durch die Anerkennung eigener Versehrbarkeit zur Möglichkeit gewordenen Radikalität.
Die Jury
Mitglieder der Jury waren der Theater-, Film- und Literaturkritiker und Redakteur Robin Detje, die Autorin und Dozentin Heike Geißler, der Autor, Journalist und Kurator Michael Götting, die Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Redakteurin Dominique Haensell, die Schriftstellerin, Journalistin und Autorin Verena Lueken, die Schrifstellerin und Aktivistin Annika Reich und die Verlegerin, Lektorin und Literaturagentin Elisabeth Ruge.
Die Autorin
Cristina Morales, geboren 1985 in Granada, studierte Rechts- und Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Internationale Beziehungen. Sie verfasste mehrere preisgekrönte Romane und Kurzgeschichten. Als Dramatikerin hat sie u. a. für Sol Picó, Sara Molina und das Nationaltheater von Katalonien gearbeitet. 2019 gewann Morales als jüngste Autorin den Premio Nacional de Narrativa des spanischen Kulturministeriums; im Jahr 2021 wurde sie von der Zeitschrift Granta zu einer der besten Nachwuchsautor:innen Spaniens gewählt. Morales ist Tänzerin und Choreografin der zeitgenössischen Tanzkompanie Iniciativa Sexual Femenina, Executive Producer der Punkband At-Asko sowie Mitglied des Kollektivs BachiniBachini.
Die Übersetzerin
Friederike von Criegern ist Literaturübersetzerin und freie Dozentin für Literatur und Übersetzen. Sie promovierte über chilenische Lyrik und übersetzt Belletristik, Lyrik und Theater aus dem Spanischen, zuletzt Jorge Comensal, Floridor Pérez und Nona Fernández. Nach Aufenthalten in Peru, Chile und Argentinien lebt sie in Göttingen.
Das Buch
Leichte Sprache erzählt die Geschichte von vier Frauen, die mit der Diagnose einer geistigen Behinderung in einer betreuten Wohnung im gentrifizierten Barcelona leben. Nati beschreibt ihre Symptomatik als »Schiebetüren-Syndrom«: Unter Druck verändert sich ihr Verhältnis zur Umwelt. Alle vier haben Lernschwierigkeiten. Marga ist Analphabetin und sexuell überaus aktiv, Àngels stottert, Patri hat Logorrhö. In integrativen Tanzgruppen und in der Hausbesetzerszene Barcelonas versuchen die Frauen, sich von der Bevormundung durch staatliche Einrichtungen und Justiz zu befreien und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. So scharfsinnig wie wütend demaskiert die Tänzerin Nati die Ideologie der nach den Vorstellungen der »neoliberalen Macho-Faschos« funktionierenden Gesellschaft, ihre Cousine Àngels entdeckt mit »leichter Sprache« ein Instrument der Teilhabe und verfasst ihre Lebensgeschichte auf WhatsApp mit erstaunlicher Poesie. Vielstimmig erzählt Cristina Morales vom Leben dieser Frauen und montiert dabei Gerichtsakten, Protokolle der anarchistischen Okupas und ein Fanzine zu einem großen Roman.